Das Achtfamilienhaus in Tübingen hat beim Award Bauen und Wohnen den zweiten Platz belegt.
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Wenn Schwaben Wildwuchs planen

Beim KfW Award Bauen und Wohnen 2016 belegte ein Achtfamilienhaus in Tübingen den dritten Platz. „En Famille“ bietet raffiniert und sparsam gegliederten Raum und belebt ein buntes Neubauquartier.

Familienglück

Wie eine Bauherrengemeinschaft ihre Vorstellung von Familienglück verwirklicht hat: Architekt und Bewohner erzählen von ihrem neuen Zuhause (KfW Bankengruppe/n-tv).

Diese Schuhe! Vor den drei Wohnungstüren im zweiten Stock stehen, hängen, stapeln und häufen sich – falls richtig gezählt – 73 Paar. Ziemlich kleine Schuhe zumeist, Straßenschühchen, Turnschuhe, Sandalen, Gummistiefel, Winterstiefel, Ballerinas, Flipflops, dazwischen Fußbälle, Fahrradhelme, Rollschuhe. Anderswo sind Schuhe im Hausflur oft verboten. Aber dies hier ist „En Famille“, ein von acht jungen Familien in Tübingen gebautes Haus mit mehr als zwanzig Kindern, mit denen die Schuhe immer mehr werden.

Junge Familien achten nicht so aufs Repräsentative, mehr aufs Praktische und Fröhliche. Außen ist der Putz in gedämpftem Rosa rau wie oft in Südeuropa aufgebracht; an der Haustür blinken die acht hölzernen Briefkästen in den gleichen Rottönen wie drinnen die zugehörigen Wohnungstüren. Die Gemeinschaftsflure und Treppenhäuser sind nicht eng, aber interessant verwinkelt, mit Zickzack-Verläufen, Versprüngen, überraschenden Richtungswechseln. Das wirkt frei und wild gewachsen, ist aber ein gründlich diskutiertes und durchdachtes Gemeinschaftswerk. Familien brauchen und nutzen jeden Quadratmeter, im Schuhflur und hinter der eigenen Tür.

Die Spieldiele im Achtfamilienhaus ist das Herz jeder Wohnung
Lieblingsraum

Die Spieldiele ist das Herz der Wohnung.

Zum Beispiel die Geses mit ihren Söhnen Rasmus, Marten und Jasper, Kind vier ist noch in Mamas Bauch. Vom kleinen Wohnzimmer im Erdgeschoss führt die Innentreppe hoch ins Herzstück der Wohnung: die Spieldiele, die in einem voll verglasten Erker frech einen halben Meter in der Wand hervorspringt – ein Kükennest mit prächtigem Ausblick von drinnen und kleinen Einblicken in große Kinderabenteuer von draußen. Von der Spieldiele gehen die winzigen Schlaf- und Schularbeitsräume der Jungen ab, in denen mit Hochbetten ein Teil der kleinen Fläche doppelt ausgenutzt ist. Wenige Quadratmeter, aber Raum für viele und vieles.

Räumlich ganz anders und doch genauso pfiffig gegliedert ist die Nachbarwohnung von Ute Metzger, Markus und Ida Schad. Da gibt es helle Außenzimmerchen und dahinter im Kern des Hauses einen Arbeitsflur und ein Bad – die aber durch Oberlichter und Zimmerwandfenster Licht von draußen bekommen. Der Glasschlitz zwischen Bad und Wohnzimmer ist so angebracht, dass man aus der Wanne in den gemeinschaftlichen Hof gucken kann, aber bei ausgeschalteter Badlampe von draußen nicht gesehen wird. In der oberen Etage hängt das Waschbecken im Durchgang zum Schlafraum – ein reiner Flur hier und ein Extrabad anderswo wären doppelte Raumverschwendung.

Das Haus ist Teil eines ganz neuen Stadtquartiers auf einem früheren Weberei-Gelände. Die Stadt Tübingen verlangte, dass an belebten Straßenecken wie der des Familienhauses im Erdgeschoss nichts Privates hinter kleinen Fenstern sein darf, sondern Raum für Läden und Sozialeinrichtungen geschaffen werden muss. So sind die acht Familien gemeinsam Vermieter des Cafés „viertel vor“ geworden.

Ein anderes Prinzip des Tübinger Städtebaus: Parzellen gehen nicht an die Zahlungskräftigsten, sondern an diejenigen, deren Konzept am meisten zur Lebendigkeit und Vielfalt des neuen Quartiers beizutragen verspricht. So bekam die Gruppe junger Eltern den Zuschlag für das schöne Eckgrundstück. Sie gönnten sich schöne, preiswerte Extras: eine große Dachterrasse, eine Garage für Fahrradanhänger – und nicht zuletzt im Haus Regale bis hoch zur Decke, damit die vielen Schuhe unterkommen.

Quelle
Cover Bauen und Wohnen 2016

Dieser Artikel ist erschienen in bauen + wohnen 2016.

Zur Ausgabe

Das Projekt in Stichworten

Projekt: Familiengerechte preisgünstige Wohnungen in einem Neubau
Lage: Tübingen-Lustnau im Neubaugebiet „Alte Weberei“
Baujahr: 2014
Bauherren: Acht Familien mit mehr als zwanzig Kindern
Architekt: Christoph Manderscheid, Stuttgart
Energieberater: Heiko Fischer, Tübingen
Fläche: 1.134 Quadratmeter Wohnfläche
Baukosten /Quadratmeter: ca. 1.340 Euro

Qualitäten für die Bewohner: Familiengerechtes Leben in durchdacht und sparsam gebauten Wohnungen in einem lebhaften, kinderfreundlichen Neubauquartier mit gemeinschaftlichem und öffentlichem Freiraum für Kinder
Qualitäten für die Gesellschaft: Belebung des neuen Stadtteils, flächensparendes Wohnen in Etagenwohnungen, öffentliche Einrichtungen im Haus
Energiesparen: Kompakter Baukörper, teils sparsame Wohnflächen, dicke Außenwände, Lüftungsanlage, Fernwärme
Barrierearmut: barrierefrei im Erdgeschoss, Café mit barrierefreiem WC

Auf KfW Stories veröffentlicht am: Dienstag, 21. März 2017

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