Eine Gruppe Flüchtender läuft mit Gepäck auf einem Feldweg
Gesellschaftlicher Zusammenhalt

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"Der Fall Ukraine ist beispiellos"

Immer mehr Menschen verlassen weltweit ihre Heimat: Die Zahl der Geflüchteten liegt auf dem höchsten Stand seit dem Zweiten Weltkrieg. Einen großen Teil davon macht die Ukraine aus. Wie es den Geflüchteten geht und warum man andere Teile der Welt trotzdem nicht vergessen sollte, darüber spricht KfW Stories mit der UNHCR-Vertreterin in Berlin Katharina Lumpp.

Zur Person
Portrait Katharina Lumpp

Katharina Lumpp ist seit Anfang 2021 Vertreterin des UN-Geflüchtetenhilfswerks (UNHCR) in Deutschland. Sie hatte diese Position bereits zwischen 2015 und 2017 inne. Den größten Teil ihres Berufslebens verbrachte die studierte Juristin allerdings im Ausland. In ihrer fast dreißigjährigen Tätigkeit für den UNHCR war sie unter anderem in Ägypten, Afghanistan, Jordanien, der Demokratischen Republik Kongo, der Türkei und auf dem Balkan im Einsatz. Dadurch hat sie einige der größten Fluchtkrisen der vergangenen Jahrzehnte begleitet.

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Seit dem 24. Februar sind fast fünf Millionen Ukrainer*innen in Nachbarstaaten geflohen und noch einmal sieben Millionen innerhalb des Landes vertrieben worden. Gab es das in diesem Ausmaß und in dieser Geschwindigkeit schon einmal?

Die Dimension ist beispiellos. Es gab Situationen, in denen viele Menschen in kurzer Zeit geflohen sind, etwa die Rohingya aus Myanmar. Aber die Fluchtbewegung, wie wir sie jetzt in der Ukraine sehen, ist einzigartig. Es ist derzeit die zweitgrößte Flüchtlingssituation weltweit. Keine hat sich seit dem Zweiten Weltkrieg so rasend schnell entwickelt: Mehr Menschen wurden nur aus Syrien zur Flucht gezwungen, aber hier stehen wir im 12. Jahr des Konflikts bei 6,8 Millionen Geflüchteten und knapp 7 Millionen Binnenvertriebenen.

Wie geht es den Geflüchteten aus der Ukraine? Kann man generelle Aussagen über deren Lage treffen?

Die Unterbringung hat relativ gut geklappt. Dafür gibt es mehrere Gründe: Aufnahmeländer - wie Polen - sind vergleichsweise ressourcenstark; auch stehen insgesamt mehr Mittel als bei anderen Krisen zur Verfügung. Solidarität und Hilfsbereitschaft in der Region sind enorm hoch, so dass viele Geflüchtete privat unterkommen konnten. Dadurch haben die meisten Geflüchteten eine neue Bleibe gefunden. Allerdings ist der Bedarf an psycho-sozialer Unterstützung sehr groß, weil vor allem Frauen und Kinder die Ukraine verlassen haben. Sie haben ein höheres Risiko, geschlechtsspezifischer Gewalt und Ausbeutung ausgesetzt zu sein. Zudem leiden viele stark unter der Trennung von ihren Familien.

Das heißt, diese Flüchtlingskrise ist zwar riesig, aber dennoch ganz gut zu managen?

So weit würde ich nicht gehen. Die Lage ist sehr volatil und kann sich schnell ändern, je nachdem wie sich das Kriegsgeschehen weiterentwickelt. Die Schwierigkeiten könnten dann rasch größer werden; darauf müssen wir uns einstellen. Auch müssen wir schon jetzt an den nächsten Winter denken und winterfeste Unterkünfte bereitstellen. Obwohl die Lage im Moment halbwegs stabil scheint, bleibt die Herausforderung groß.

Angeblich gehen die ersten Geflüchteten schon wieder zurück. Können Sie das bestätigen?

Das kommt vor, aber unserer Erkenntnis nach sind das oft keine dauerhaften Rückkehrer. Viele sagen uns, dass sie nach Familienangehörigen schauen, den Zustand ihres Hauses oder ihrer Wohnung prüfen wollen und dann wieder gehen. Für eine permanente Rückkehr ist die Situation in der Ukraine noch zu instabil.

Wir sprachen jetzt über die Ukraine. Wie ist die Lage der Geflüchteten insgesamt auf der Welt?

Wir sehen einen generellen Trend nach oben, mit derzeit insgesamt mehr als 100 Millionen Geflüchtete oder Binnenvertriebenen. Zwei Drittel davon kommen aus nur fünf Ländern: Syrien, Ukraine, Afghanistan, Myanmar und Südsudan. Sie sind wegen Konflikten und schweren Menschenrechtsverletzungen geflohen. Würden die Konflikte in wenigstens einigen dieser Länder gelöst oder entschärft, dann könnten wir einen guten Teil des weltweiten Fluchtproblems lösen.

Das bedeutet, Konflikte sind der wichtigste Grund dafür, dass Menschen ihre Heimat verlassen? Es ist nicht Hunger oder Dürre oder Ähnliches?

Eindeutig ja. Konflikte sind die Hauptursache für Flucht.

Der Klimawandel spielt keine Rolle?

Die Folgen des Klimawandels wirken sich aus unserer Perspektive als Multiplikator aus, sie verstärken Risiken. Klimawandel kann vor allem dann zu einem Faktor von Flucht - auch über internationale Grenzen – werden, wenn er bereits bestehende Konflikte sowie politische, ethnische und soziale Spannungen weiter verschärft, die zu Gewalt und Menschenrechtsverletzungen führen. Bei Menschen, die aufgrund von klimabedingten Veränderungen zum Verlassen ihrer Heimatorte gezwungen sind, zum Beispiel durch extreme Wetterereignisse beobachten wir, dass sie häufig im eigenen Land bleiben. Sie fliehen über kürzere Distanzen und meist temporär. Im Falle einer Dürre zum Beispiel verlassen Menschen das trockene Gebiet, bleiben aber in der Gegend und kehren zurück, wenn es wieder regnet und gesät werden kann.

Flucht

Mehr als 100 Millionen Menschen leben derzeit unfreiwillig fern ihrer Heimat. Sie wurden vertrieben im eigenen Land oder sind in einen anderen Staat geflüchtet. Das ist der höchste Stand seit Beginn der Aufzeichnungen Anfang der fünfziger Jahre. 2010 zum Beispiel hatten mit rund 43 Millionen weltweit noch nicht einmal halb so viele Menschen ihren Wohnort verlassen. Der wichtigste Grund, aus dem Menschen andernorts Schutz suchen, sind gewalttätige Konflikte wie derzeit in der Ukraine oder in Syrien.

Strahlt die Flüchtlingskrise in der Ukraine auf andere Weltgegenden ab? Zum Beispiel, indem viel Geld dorthin fließt, das andernorts fehlt?

Die Gefahr besteht und ist sehr real. Wir sollten auf keinen Fall übersehen, was sich sonst noch abspielt auf der Welt. Zumal der Krieg in der Ukraine globale Auswirkungen auch auf die Situation von Geflüchteten und Binnenvertriebenen weltweit hat : Der Mangel an Nahrungsmitteln und die steigenden Lebensmittel- und Energiepreise, die wir derzeit wegen des Ukraine-Krieges erleben, treffen Geflüchtete und andere verletzliche Bevölkerungsgruppen besonders hart; das sollte unbedingt abgefedert werden.

Trifft es zu, dass die meisten Geflüchteten so bald wie möglich wieder in ihre Heimat zurückkehren möchten?

Das stimmt, und gilt vor allem für die ersten Jahre einer Krise. Irgendwann gehen die Kinder am neuen Ort in die Schule, lernen eine neue Sprache, integrieren sich. Unserer Erfahrung nach ist die Sehnsucht nach Rückkehr bei allen Geflüchteten sehr groß, aber die Zeit ändert dann Realitäten. Deshalb ist es umso wichtiger, dass sich Konflikte nicht verfestigen. Je früher sie gelöst werden, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit, dass Menschen wieder dorthin zurückkehren können, wo sie herkamen.

Gibt es so etwas wie einen klassischen Flüchtling?

Nicht wirklich, weil jede Situation anders ist. In der Ukraine sind es überwiegend Frauen und Kinder, während aus Syrien auch viele junge Männer geflohen sind, weil sie sich nicht zum Militäreinsatz gegen das eigene Volk zwingen lassen wollten. Einen klassischen Flüchtlingstypus gibt es nicht. Gleichwohl bilden Flüchtlingsströme häufig die Zusammensetzung einer Gesellschaft im Kleinen ab - z.B. in Bezug auf Alter und sozialer Herkunft

Welche Rolle spielt Deutschland für die internationale Flüchtlingshilfe?

Die Bundesrepublik ist einer der wichtigsten Partner weltweit - und zwar als zweitgrößter humanitärer Geber nach den USA und als eines der großen Aufnahmeländer von Geflüchteten. Deutschland nimmt eine einzigartige Doppelrolle ein und genießt dadurch international große Glaubwürdigkeit. Es war auch Mitveranstalter des ersten globalen Flüchtlingsforums im Jahr 2018 und beteiligt sich aktiv an der Umsetzung des Globalen Pakts für Geflüchtete.

Was genau wurde bei diesem Forum beschlossen und warum war es wichtig?

Mit dem ersten Globalen Flüchtlingsforum wurden wichtige Schritte unternommen und Zusagen gemacht, um die internationale Verantwortung für den Flüchtlingsschutz zu verbessern und den Globalen Pakt umzusetzen. Mit dem Pakt hat sich die Staatengemeinschaft vorgenommen, besser auf große Fluchtsituationen zu reagieren. Das beinhaltet unter anderem, Aufnahmeländer stärker zu unterstützen, heißt aber auch, dass humanitäre Hilfe, Entwicklungszusammenarbeit, Privatsektor, UN-Organisationen und NGOs besser an einem Strang ziehen.

Welche Rolle kann und soll die Entwicklungszusammenarbeit bei Flüchtlingskrisen spielen? Diese sind meist sehr akut und stellen damit das Gegenteil von langfristiger Perspektive dar, wie sie Entwicklungsmaßnahmen in der Regel zum Ziel haben.

Aus unserer Sicht ist es sehr wichtig, dass Entwicklungsakteure bei Flüchtlingskrisen von Anfang an beteiligt sind. Neben der unmittelbaren Hilfe braucht es gerade dann zusätzliche Investitionen in den Aufnahmeländern, die sonst schnell überfordert werden. Etwa in deren Gesundheits- und Bildungssysteme, um diese zu stärken und um Geflüchtete einfacher und schneller zu integrieren. Damit wird sowohl Geflüchteten als auch der einheimischen Bevölkerung geholfen. Im Fall der Ukraine braucht etwa Moldau, das prozentual besonders viele Geflüchtete zu versorgen hat, jetzt internationale Unterstützung. Das gilt auch für den Libanon in Folge des Syrienkonflikts und andere Aufnahmeländer, von denen viele nur über geringe wirtschaftliche Ressourcen verfügen.

Sie selbst haben viele Jahre für den UNHCR im Ausland gearbeitet und dabei das Schicksal von Geflüchteten hautnah erlebt. Was hat sie dabei besonders erschüttert?

Ich habe überall Dinge gesehen, die mich bewegt, aber auch beeindruckt haben: Wie Rückkehrer mit zähem Willen inmitten von Trümmern ihr Haus wieder aufbauen. Oder wenn Geflüchtete selbst eigentlich nichts besitzen und dann noch das letzte Brot mit anderen teilen. Solche Begegnungen bleiben im Kopf haften. Natürlich auch das unbeschreibliche Elend, das Flucht mit sich bringt. Deshalb sollte die internationale Staatengemeinschaft alles daran setzen, Konflikte so schnell wie möglich zu entschärfen. Das ist das beste Rezept gegen die globale Flüchtlingskrise.

Auf KfW Stories veröffentlicht am 20. Juni 2022.