Herr Pörtner am Tisch mit Mikrofon
Biodiversität

Biodiversität

„Wir übersehen permanent die rote Ampel“

Erderwärmung und der Artenschwund bleiben trotz des Ukraine-Krieges und unsicherer Energieversorgung ein Top-Thema und zusammen eine der größten Herausforderungen unserer Zeit. Warum wir sie gerade jetzt nicht aus dem Blick verlieren dürfen und welche Konsequenzen andernfalls drohen, darüber spricht KfW Stories mit dem Meeresbiologen und Ko-Vorsitzenden einer IPCC-Arbeitsgruppe, Hans-Otto Pörtner.

Zur Person
Portrait von Herr Poertner

Professor Dr. Hans-Otto Pörtner ist Ko-Vorsitzender der Arbeitsgruppe II des Weltklimarates. In dieser Funktion koordinierte er die Arbeiten zum 6. Weltklimabericht zu Klimafolgen, Anpassung und Verwundbarkeit, der Ende Februar 2022 erschienen ist. Außerdem leitet er die Abteilung für integrative Ökophysiologie am Alfred-Wegener-Institut, Helmholtz-Institut für Polar- und Meeresforschung in Bremerhaven.

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Der Klimawandel bedrückt uns alle; der Schwund an Biodiversität hat sich dagegen noch nicht im allgemeinen Bewusstsein festgesetzt. Woran liegt das?

Tatsächlich ist das Bewusstsein dafür nicht sehr ausgeprägt. Die meisten Menschen mögen schöne Natur, aber was dahinter und darin steckt, was die Artenvielfalt für uns leistet, ist ihnen nicht klar. Beim Klimawandel ist das anders. Er wird real; besonders nach einem solchen Hitzesommer wie dem letzten merken alle, wie nahe uns das kommt. Hier steigt die Zahl der Leute, die Veränderungen, die auch politisches Handeln sehen möchten. Das Ausmaß der existentiellen Bedrohung allerdings, die ein ungebremster Klimawandel mit sich bringt, ist auch bei diesem Thema noch nicht durchgedrungen. Viele Politiker entscheiden immer noch so, als ob wir eine Wahl hätten, als ob man den Klimaschutz betreiben könnte oder auch nicht. Das ist nicht der Fall. Mit unzureichend gebremstem Klimawandel steuern wir auf eine sehr, sehr ungewisse und bedrohliche Zukunft zu.

Das gilt doch für Biodiversität genauso. Auch ihr Verlust kann existenzielle Folgen haben...

Auf jeden Fall und die Effekte sieht man bereits. Wir sind zum Beispiel gerade dabei, eines der artenreichsten Ökosysteme dieser Erde nahezu komplett zu verlieren: die Warmwasser-Korallenriffe. Dabei erbringen sie sehr wichtige Dienstleistungen, puffern Stürme ab, spielen eine entscheidende Rolle im Küstenschutz und bei der Versorgung mit Nahrungsmitteln, weil sie die Kinderstube für Fische sind. Der Klimawandel ist dafür die entscheidende Ursache. Hier sieht man sehr deutlich, dass Biodiversitätsverlust und Klimawandel untrennbar zusammengehören, und beide eine sehr ernste Bedrohung für unser Überleben darstellen. Doch auch in unseren Breiten und in Ökosystemen an Land, etwa in unseren Wäldern sieht man diese wechselseitigen Beziehungen und Veränderungen.

Aber wir behandeln die beiden Krisen nicht zusammen, weder im UN-Prozess, noch in der allgemeinen Diskussion. Warum?

Der Weltklimarat und der Weltbiodiversitätsrat hatten Ende 2020 einen gemeinsamen Workshop zu dem Thema und im Nachgang dazu Mitte 2021 auch einen Bericht herausgegeben. Das ist das erste offizielle gemeinsame Produkt der beiden Organisationen. Daran sieht man, wie getrennt die Prozesse lange Zeit waren. Aus dem Bericht geht als Schlussfolgerung klar hervor, dass keine der beiden Krisen ohne die andere zu lösen ist.

Woran liegt das? Heute denkt man, der Zusammenhang liegt doch auf der Hand.

Die Verbindung war früher auch in der Wissenschaft nicht ausreichend präsent. Da gab es zwar einerseits den Klimawandel mit all seinen Gefahren auch für die Natur, aber davon zunächst relativ unberührt den Naturschutzgedanken als Antwort auf den direkten Eingriff des Menschen in die Natur. Artenvielfalt zu erhalten, schien lange nichts mit dem Klima zu tun zu haben, sondern war ein Thema für sich. Damals stand beim Klima auch die Physik sehr im Vordergrund. Die Einsicht, dass die Biologie eine wichtige Komponente im Klimageschehen auf dieser Erde ist, hat sich nicht sofort eingestellt, sondern ist erst im Laufe der Jahrzehnte gewachsen. Die Klimaphysiker haben sich nicht um Artenvielfalt gekümmert und diejenigen, die sich mit CO2-Minderung beschäftigten, auch nicht. Erst seit relativ kurzer Zeit betrachtet man den Klimawandel auch als entscheidend für den Verlust der Arten und umgekehrt den Verlust von Ökosystemen als schädlich für das Klima. So kam es zu dieser Trennung, die wir jetzt überwinden müssen.

Blick auf das Waldschutzgebiet im Annamiten-Gebirge
Waldschutzgebiet in Laos

Wie kann das geschehen?

Zum Beispiel, indem Weltklima- und Weltbiodiversitätsrat einen Sonderbericht zu den Wechselwirkungen von Biodiversität und Klima herausbringen. Damit könnten wir zeigen, wie die Verbindungen genau aussehen und welche Maßnahmen sich empfehlen. Hier herrscht nämlich einige Verwirrung. Eines darf zum Beispiel nicht geschehen, dass man die Natur einsetzt, um sich Klimaschutzmaßnahmen zu sparen. Nach dem Motto: Die Ökosysteme helfen uns, CO2 weg zu speichern, das wir sonst nicht loswerden. Wir müssen nur genügend Naturschutzgebiete ausweisen und Millionen Bäume pflanzen, dann wird das schon.

Und machen weiter wie bisher.

Genau. Das wäre der völlig falsche Weg. Aus zwei Gründen: Ökosysteme können gar nicht so viel CO2 speichern, wie nötig ist, um die Erderwärmung auf einem vernünftigen Maß zu halten. Zweitens schadet jedes Zehntelgrad Temperaturanstieg der Natur, siehe Korallen und die Schäden an den Wäldern. Wenn wir die Emissionen nicht senken, werden die Ökosysteme so beschädigt, dass sie ihrer Klimaschutzfunktion auf lange Sicht nicht mehr nachkommen können und damit den Klimawandel noch weiter beschleunigen. Auch andere Dienstleistungen, auf die wir als Menschen dringend angewiesen sind, können sie dann schlechter erbringen, zum Beispiel ausreichend Wasser und Nahrung bereitstellen. Deshalb heißt die Devise: Die Emissionen müssen runter und zwar schnell genug, das ist alternativlos.

Wie wirken Klima- und Biodiversitätsschutz zusammen?

Sie können sich positiv verstärken, aber auch negativ. Deshalb muss man ganz genau hinschauen. Beispiel: Bioenergiepflanzen. Sie helfen zwar, CO2 einzuspeichern, aber der Preis ist hoch, weil dafür Flächen verwendet werden, die eigentlich für die Landwirtschaft und sichere Nahrungsmittel nötig sind. Landwirtschaft wiederum ist einer der Hauptgründe für den Schwund an Biodiversität. Wenn wir für solche Bioenergiepflanzen noch mehr Wälder für die Landwirtschaft abholzen, dann erreichen wir am Ende das Gegenteil des Beabsichtigten. An zwei generellen Faktoren kommen wir nicht vorbei: Wir müssen der Natur so viel Raum geben, dass sie Artenvielfalt erhalten und ihre Aufgaben erfüllen kann. Und wir müssen die Emissionen rasch senken, um die Klimaziele einzuhalten.

Wie groß ist der Zeitdruck, unter dem wir stehen?

Enorm. Leider werden bei Klima und Biodiversität immer wieder Ziele beschlossen - und dann nicht umgesetzt. Wir sehen überall Kompromisse, auch jetzt wegen der Ukraine-Krise, und erleben dadurch Verzögerungen, die wir uns nicht leisten können. Wir wissen heute, dass die früheren Klimaprognosen zu konservativ waren, dass Risiken schneller einsetzen, als wir annahmen. Wer hätte vor fünf Jahren gedacht, dass selbst wir in Deutschland unter wiederkehrenden Hitzewellen leiden und Menschenleben verlieren würden. Dabei sind wir jetzt „erst“ bei 1,2 Grad höherer Temperatur im Vergleich zur vorindustriellen Zeit. Und wir denken auch noch, bis 1,5 Grad ist alles gut. Aber selbst die 0,3 Grad, die wir ganz sicher noch bekommen, werden uns zur Last fallen. Alle geplanten Minderungsmaßnahmen zusammen genommen, steuern wir derzeit auf mehr als 2,5 Grad Erderwärmung und damit auf noch sehr viel krisenhaftere Zeiten zu.

Werfen Sie der Politik Verzögerung vor?

Der Politik, aber auch den Gesellschaften als Ganzes und nicht zuletzt den Lobbyisten, die Veränderungen verhindern oder verzögern. Wir betrachten die Naturgesetze immer noch zu wenig als Verkehrsregeln, die uns klar vorgeben, was wir tun dürfen und was nicht. Wenn wir über rote Ampeln fahren und uns die Polizei erwischt, dann kriegen wir eine Rechnung und sogar Punkte. Beim Klima- und Artenschutz ist das anders. Die rote Ampel wird nicht gesehen oder einfach überfahren, ohne an die Rechnung zu denken. Beides sind für viele immer noch freiwillige Themen, „nice to have“, aber nicht existenziell zwingend. Das sind sie aber. Diese Haltung führt uns in eine katastrophale Zukunft.

Es gibt einen Wettkampf um dasselbe Stück Land: für die Energieproduktion, für die Landwirtschaft und für die Natur. Wie kann man das dieses „Trilemma“ auflösen, gerade in der jetzigen Lage?

Indem wir langfristiger denken. Nehmen Sie die Hungerkrise und die Diskussion um Brachen, auf denen kurzfristig mehr Getreide produziert werden könnte. Das ging ganz klar zu Lasten der Biodiversität. Da gibt es noch andere Lösungen, zum Beispiel die Fleischproduktion deutlich zurückzufahren. Derzeit werden 60 Prozent unserer Kulturflächen für Tierfutter genutzt. Dieses Land könnten wir anders nutzen, wenn wir alle mehr Pflanzliches essen würden. Das wäre sogar gesünder, würde die Lebenserwartung steigern und wäre gut fürs Klima, weil Rinder zum Beispiel auch noch Methan produzieren. Dafür muss man den Menschen ehrlich sagen: Ändert Eure Gewohnheiten. Die Diskussion dazu läuft ja an. Aber diese Umstellung ist oft unbequem. Deshalb geht man den scheinbar leichteren Weg - und zahlt dann auf lange Sicht den höheren Preis.

Ist die jetzige Krise vielleicht auch eine Chance, weil wir zum Beispiel schneller auf erneuerbare Energien umstellen?

Die Krise könnte eine Chance sein, wenn wir das generalstabsmäßig angehen und uns wirklich umstellen würden. Wir brauchen, und ich verwende hier absichtlich einen militärischen Begriff, eine Generalmobilmachung gegen den Klimawandel und den Verlust an Natur. Je länger wir warten, desto schmerzhafter wird das Ganze.

Und davon sehen Sie derzeit nicht einmal Ansätze?

Selbst die offensichtlichsten und einfachsten Maßnahmen fallen schwer: Tempolimit auf Autobahnen ist so ein Beispiel. Die Formel-1, eine der umweltschädlichsten Sportarten, wird nicht ausgesetzt und auch nicht konsequent auf Elektro umgestellt. Luxus-Motorradfahrten, keine Einschränkung. Flugverkehr, keine Vorgaben zu erneuerbaren Brennstoffen. Wir brauchen klare Regeln, um die Umstellung voranzutreiben.

Was Sie sagen, gilt für Industriestaaten. Wie sieht es mit den Entwicklungsländern aus? Viele von ihnen befinden sich aus unterschiedlichen Gründen in permanenter Krise. Können Sie verstehen, dass die Verantwortlichen dort vielleicht nicht in erster Linie an erneuerbare Energien denken?

Ich kann das zunehmend weniger verstehen, weil auch diese Länder merken, wie die Klimakrise sie in existenzielle Nöte bringt. Denken Sie an die mörderische Hitzewelle, die Indien unlängst erlebt und die ein normales Leben nicht mehr zugelassen hat. Wenn man das sieht, dann müsste man doch eigentlich sagen: Entwickeln wollen wir uns so schnell wie möglich, aber nur noch mit erneuerbaren Energien.

Hat unser Versagen beim Klima- und Biodiversitätsschutz auch etwas mit unserem Naturverständnis zu tun?

Wir halten uns für überlegen und haben im täglichen Leben eine große Distanz zur Natur aufgebaut, mit dem Ergebnis, dass wir uns nicht mehr als Teil der natürlichen Prozesse erachten. Das ist eine große Wahrnehmungslücke, die es zu schließen gilt.

Auf KfW Stories veröffentlicht am 4. Oktober 2022.