Im Dreiländereck von Albanien, Nordmazedonien und Griechenland breitet sich ein riesiges Biosphärenreservat aus. Starfotograf Valerio Vincenzo war für KfW Stories dort und dokumentierte den Wandel einer Region, in der bis vor 30 Jahren der Eiserne Vorhang Freunde und Familien trennte.
Manchmal ist die Grenze in den Köpfen der Menschen größer als in der Wirklichkeit. Und scheint umso unüberwindbarer, je weiter man davon entfernt ist. So gilt der Balkan gemeinhin als vermintes Gelände. Ein explosives Gemisch aus Religionen, Sprachen und Sippen und darum eine Geschichte ewiger Kriege.
Umso bemerkenswerter ist das Dreiländereck aus Albanien, Nordmazedonien und Griechenland, eine Bilderbuchlandschaft schroffer Berge, tiefblauer Seen und grüner Hänge. Hier mähen Bauern das Korn noch mit Sensen, während Frauen zur Ernte auf den Feldern große Strohhüte tragen. Hier leben Braunbären und nisten Kolonien von Krauskopfpelikanen. In diesem Panorama läuft seit einer Weile ein spannendes Projekt, welches die Grenzen nicht bloß überschreitet, sondern sie bis zu einem gewissen Grad sogar überwindet. Hier finanziert der Geschäftsbereich KfW Entwicklungsbank die Anstrengungen der Naturschutzstiftung PONT, des Prespa Ohrid Nature Trust.
Dessen Ziel ist es, das reiche natürliche, historische und kulturelle Erbe der Region um den Prespa- und den Ohridsee zu bewahren, über jene Grenzen hinweg, welche die Wasserflächen und die Uferregionen in einen albanischen, einen nordmazedonischen und einen griechischen Teil zerlegen. „Das tun wir, indem wir vier Nationalparks, zwei weitere Schutzgebiete und lokale NGOs langfristig fördern“, sagt Mirjam de Koning, die Managerin von PONT mit Büro in der albanischen Hauptstadt Tirana. „Das Besondere unserer Arbeit für den Schutz dieser Region liegt darin, dass wir nicht selbst Projekte betreiben, sondern den Menschen vor Ort unter die Arme greifen. Damit stärken wir die Bindung zwischen Bevölkerung und Naturschützern. Zugleich schaffen wir die Voraussetzungen dafür, dass die Menschen über die Grenzen miteinander etwas für den Schutz der Umwelt tun. Schließlich halten sich weder Tier noch Klima an die Grenzen, die hier so lange kaum überwindbar schienen.“
Die Kombination aus grenzenloser Schönheit und hohen Hürden hat auch den Fotografen Valerio Vincenzo in die Gegend um Prespa und Ohrid geführt. Sie sind ein weiterer Fixpunkt im Rahmen seines großen Fotografieprojekts „Borderline“. Seit 2007 dokumentiert der Italiener, wie überall in Europa Grenzen verschwinden und gemeinsame Lebensräume entstehen. Für seine Bilderserie folgt Vincenzo dem immer gleichen Muster. Vor Ort sucht er sich die – inzwischen unsichtbaren – Grenzlinien, stellt sich an einer idealen Stelle genau darauf und fotografiert so, dass links von ihm das eine Land und rechts von ihm das andere Land zu sehen ist.
Eindrücke von der Reise durch den Südbalkan
Anton Bojazdi ist der Direktor des Galicia National Parks. Wie schon sein Vater zuvor, engagiert er sich seit vielen Jahren für den Schutz der Natur um den Ohridsee in Nordmazedonien.
Bei seiner immer noch andauernden Europareise ist er inzwischen, genau 30 Jahre nach Fall des Eisernen Vorhangs, auf dem Balkan angekommen, um sich von albanischen Fischern jene unsichtbare Linie zeigen zu lassen, an der damals noch geschossen wurde. Heute herrscht hier Frieden, nur das Ausbringen von Netzen jenseits der Linie wäre illegal. Aber Vincenzo will hier nicht nur eines seiner inzwischen berühmten Borderline-Motive schießen, sondern auch die Natur des PONT-Projekts dokumentieren. So setzt er mit dem Reptilienforscher Dragan Arsovski auf eine unbewohnte Insel im Prespasee über, um sich ein Bild von der Vielfalt der Tierwelt zu machen. Dort erforscht der Nordmazedonier gerade das Leben der Schildkröten.
400 endemische Arten leben in der Region. Die Seenlandschaft, zwischen 650 und 850 Meter hoch gelegen und von bis zu 2.600 Meter hohen Bergen umgeben, ist eines der größten Reservoirs für Trinkwasser in Europa. Sie gehört zum Welterbe der Vereinten Nationen. Die Idylle des Sommers mit seinen farbenprächtigen Wiesen und tiefgelben Weizenfeldern lässt einen Besucher schnell vergessen, dass hier zu leben schwierig sein kann. Schon immer zog es die Menschen dieser armen Gegend in die Städte, oder sie wanderten gleich Richtung Mitteleuropa aus. Und der Schutz der Biodiversität sowie der nachhaltige Umgang mit den natürlichen Ressourcen mögen im langfristigen Interesse aller Menschen sein, kurzfristig aber können solche Programme mit den Bedürfnissen der Bewohner kollidieren.
Da sind etwa die Fischer, die vor allem vom Karpfenfang leben. Sie respektieren die Schonzeiten und nutzen kleinere Boote als früher. „Aber die Zahl der brütenden Pelikane hat stark zugenommen“, sagt Kosta Trajce, Chef der Fischerkooperative im albanischen Dorf Kallamas, der seit 41 Jahren auf den See hinausfährt. „In dem flachen Wasser, in dem sie ihre Nester bauen, gibt es immer weniger Fischeier, und entsprechend verändert sich die Zahl der Fische im See.“
Da sind die Pensionswirte und Restaurantbesitzer in Nordmazedonien, die seit dem Ende Jugoslawiens viel von ihrer traditionellen Klientel, den Bürgern der einstigen Republik, eingebüßt haben. Sie würden am liebsten Strände anlegen und Hotelanlagen bauen, um Besucher anzuziehen.
Da sind manche Griechen, die den Streit um die Namensgebung des mazedonischen Staates im Norden seit Jahren geschürt haben, ihre Grenzen eifersüchtig bewachen und noch immer nicht jeden Übergang geöffnet haben. Zugleich haben sie keine Probleme damit, wenn Tausende Albaner illegal den Weg durch die Wälder zu ihnen finden, um in der Erntezeit ihre kargen Einkünfte aufzubessern.
Und da sind die Albaner, die Ärmsten in der Region. Für viele von ihnen ist Feuerholz ein großes Thema, zum Kochen wie zum Heizen im Winter. Entsprechend sind die Berge auf der albanischen Seite der Seen weitgehend abgeholzt. Ein Gestrüpp grüner Sträucher und Büsche bedeckt die Hänge, wo einst Wälder wuchsen.
„Früher kamen hier Fahrzeuge aus dem ganzen Land an, um Holz zu schlagen“, sagt Vasil Male, verantwortlich für die Kontrollen und die Bewirtschaftung des Prespa-Nationalparks. „Illegales Fällen war bis vor 20 Jahren normal. Das hat sich seit der Gründung des Nationalparks 1999 gebessert. Heute dürfen nur die Bewohner der Region Holz schlagen. Wir kontrollieren das ebenso wie die weitere Bodennutzung.“ Früher zogen zudem große Schafherden die Hänge hoch, Ziegen liebten die Rinde der Bäume. Sie zerfraßen allmählich Wälder und Pflanzenwelt. „Inzwischen forsten wir auf“, sagt Male. „Wir sehen nun eine neue Vielfalt an großen Säugern wie Bären, Hirsche, Wölfe, Wildschweine und wilde Ziegen.“
Um die Konflikte zu managen, bedarf es nicht nur der Aufklärung der Leute in der Gegend. „Wir haben uns dafür eingesetzt, dass die NGOs vor Ort Büros einrichten, mit den Einheimischen eng zusammenarbeiten und wenn möglich auch Jobs anbieten“, sagt Mirjam de Koning von PONT. So arbeitet etwa Cveta Trajce im PONT-Büro. In Tirana und Sofia hat sie International Business und Marketing studiert. Nach dem Examen kam sie in ihre Heimat Prespa zurück. Seit Kurzem ist sie verlobt mit einem Mann, dessen Großvater ein Leben lang als Imker gearbeitet hat. In den Dörfern am Westufer des Prespasees leben noch fünf Familien von Bienen und ihrem Honig.
Hinter dem Haus in Gorice hat Gjorgji Kitan mehr als hundert Bienenstöcke. Im vergangenen Jahr hat der 84-Jährige erlebt, dass binnen weniger Tage ein so gewaltiges Bienensterben in seinem Hinterhof einsetzte, wie er es noch nie zuvor gesehen hatte. „Wir wissen nicht genau, warum“, sagt der Züchter. „Wir ahnen, dass da Kräfte wirken, die unserer Natur schaden, und Bienen sind die ersten Opfer.“ Zur selben Zeit machten Kitan und sein Enkel auf der Jagd nach dem besonders kostbaren wilden Honig in der Gegend eine überraschende Entdeckung. An den geheimen Stellen, an denen sie seit Jahren ihre wertvollsten Funde machen – etwa 80 Euro bringt ein Kilo wilder Honig, den sie bis ins vier Stunden entfernte Tirana verkaufen –, produzieren die wilden Bienen in diesem Jahr einen Honig, der dunkler ist und besser schmeckt als zuvor. Ganz offensichtlich ernähren sie sich von den kleinen Plantagen des Bergtees, welche die Bewohner mit Unterstützung des Nationalparks angelegt haben. Bergtee gab es hier immer schon, aber die systematischen Anpflanzungen im Park erhöhen die Biodiversität der Region und helfen auch den Menschen vor Ort. „Man mag über die Streitigkeiten viel hören, die es in dieser Gegend gibt, ob zwischen den Menschen in einem Dorf oder über die Grenzen hinweg“, sagt Mirjam de Koning. „Im Alltag jedoch herrscht ein bemerkenswerter Pragmatismus. Die Bürgermeister in den Ortschaften der verschiedenen Länder nutzen im Zweifel die Kontakte, welche lokale NGOs seit Jahren geknüpft haben, um sich über die Grenzen hinweg zu verständigen, wenn es nötig ist. Und es interessiert sie nicht, was die Politiker in den Hauptstädten Athen oder Skopje dazu sagen mögen.“
Dabei hilft sicherlich, dass die Menschen auf allen Seiten der Grenzen sich ähnlich sind. Ihrer Herkunft nach sind sie Mazedonier, ihre Religion meist christlich-orthodox. Das gilt auch für die Menschen in dem sonst muslimisch geprägten Albanien. Gerade die Entwicklung Albaniens zeigt jedoch, wie weit der Weg in eine gemeinsame Zukunft ist. Bis 1991 war das Land das neben Nordkorea vielleicht isolierteste der Welt. Auch wenn die schlimmsten stalinistischen Zeiten vorbei waren, hatte das Regime es den Einwohnern verboten, die Grenze zu überqueren. Bewaffnete Patrouillen mit scharfen Hunden machten Jagd auf jeden, der das Land zu verlassen suchte. Hunderte sind dabei ums Leben gekommen, und wer lebendig gefasst wurde, ging oft ins Straflager. Museen erzählen heute von den vielen Albanern, die isoliert, gefoltert und getötet wurden. Und noch immer zeugen die Reste der Minibunker im Land davon, dass sich jeder Bürger bei einem Alarm binnen drei Minuten dort in Sicherheit bringen musste. Das Regime bestrafte, wer sich an den nächtlichen Übungen nicht eifrig beteiligte.
Nicht nur die Deutschen waren mit der Wiedervereinigung und dem Ende des Ostblocks so sehr beschäftigt, dass sie den großen Moment kaum wahrnahmen, als sich 1991 die Grenzen schließlich öffneten und sich die Familien in der Region um Ohrid- und Prespasee nach Jahrzehnten in den Armen lagen. Viele hier haben Familien, deren Mitglieder jenseits der jeweiligen Grenzen wohnten. Allesamt Mazedonier, allesamt orthodox, von den Unwägbarkeiten der Geschichte des Balkans getrennt.
Die Öffnung Albaniens – für seine Bürger eine Erfolgsgeschichte – geschah, während Jugoslawien allmählich blutig in seine ethnischen Bestandteile zerfiel. Die Menschen Nordmazedoniens wurden dabei unabhängig, aber ihr Lebensstandard sank im Vergleich zu den Zeiten, da sie nur Bürger einer Teilrepublik waren. Und gemeinsame Sprache und Religion in diesem Dreiländereck konnten nicht darüber hinwegtäuschen, wie groß die Unterschiede zwischen den Menschen über die Grenzen hinweg waren – eine Erfahrung ähnlich der deutschen auf beiden Seiten der Mauer.
Menschen wie Robertina Brajanoska verkörpern den Widerspruch dieser Entwicklung: das Leiden unter der neuen, unabhängigen Regierung wie die Hoffnung auf bessere Zeiten. Sieben Jahre lang hat sie im nordmazedonischen Umweltministerium in Skopje gearbeitet – und ihren Vertrag nicht verlängert. „Ich habe gesehen, dass Politiker nicht nur Dinge versprachen, die sie nie tun wollten. Sie haben sogar NGOs gegründet, um sich ein besseres Image zu verschaffen und sie nur zu ihrem politischen Vorteil zu nutzen.“
Seither arbeitet Brajanoska mit anderen Umweltschützern daran, die Region um den Prespasee in ihrer Schönheit zu bewahren. „Vor 20 Jahren hielten uns die Leute für verrückt, wenn wir Vögel zählten“, sagt sie. „Heute begreifen die Menschen, dass wir verantwortungsvoll mit der Natur umgehen müssen. Das ist immer noch verdammt schwierig. Aber mit der Unterstützung von PONT und vielen anderen können wir es schaffen.“
Dass es heute darum gehen muss, Grenzen zu überwinden, ist allen klar. Jene Barrieren im Kopf wie die realen. Diese Idee stand auch am Anfang des fotografischen Projekts von Valerio Vincenzo vor zwölf Jahren. Er hat seinem Buch „Borderline“ einen Text des Schriftstellers Stefan Zweig vorangestellt. Der schrieb einst unter dem Eindruck der neuen Zäune und Schranken von Fotos und Fingerabdrücken, welche nach dem Ersten Weltkrieg in Europa bei der Grenzpassage üblich wurden: „All diese sinnlose Kleinkariertheit hat unsere Generation eine Menge kostbarer und unwiederbringlicher Zeit gekostet. Wenn ich an all die Male denke, da ich an Grenzübergängen gefilzt und befragt worden bin – erst dann wird mir bewusst, wie viel Menschenwürde wir in diesem Jahrhundert verloren haben.“
Zu diesen Nachhaltigkeitszielen der Vereinten Nationen leistet das dargestellte Projekt einen Beitrag
Ziel 6: Wasser und Sanitärversorgung für alle
Ohne Wasser kein Leben! Wir benötigen es als Trinkwasser, aber auch in der Landwirtschaft, um Nahrungsmittel zu produzieren. Die Vereinten Nationen haben daher 2008 den Zugang zu sauberem Trinkwasser als Menschenrecht anerkannt. Dennoch müssen 748 Millionen Menschen noch immer ohne sauberes Trinkwasser auskommen. Nach Schätzungen sterben deswegen an einem einzigen Tag weltweit 5.000 Kinder. 2,5 Milliarden Menschen haben keinen Zugang zu sanitärer Grundversorgung. Quelle: www.17ziele.de
Alle Mitgliedsstaaten der Vereinten Nationen verabschiedeten im Jahr 2015 die Agenda 2030. Ihr Herzstück ist ein Katalog mit 17 Zielen für nachhaltige Entwicklung, den Sustainable Development Goals (SDGs). Unsere Welt soll sich in einen Ort verwandeln, an dem Menschen ökologisch verträglich, sozial gerecht und wirtschaftlich leistungsfähig in Frieden miteinander leben können.
Auf KfW Stories veröffentlicht am 18. Oktober 2019
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