Angst ist ein angeborener Schutzmechanismus. Tritt sie jedoch häufig und in harmlosen Situationen auf, kann eine Psychotherapie dabei helfen, die Angst auslösenden Momente zu verstehen und neue Verhaltensmuster einzuüben. Das Unternehmen Sympatient hat Therapieinhalte in eine App überführt und setzt Virtual Reality für Übungsszenarien ein. Dafür wurde das Hamburger Health-Start-up mit dem KfW Award Gründen ausgezeichnet.
Video: Zu Gast beim Team von Sympatient (KfW Bankengruppe/n-tv).
Bis zu 30 Prozent aller Menschen erkranken im Laufe ihres Lebens an einer Angststörung, die unterschiedliche Auswirkungen hat. Häufig können Betroffene nicht verreisen, bekommen Panik in geschlossenen Räumen und Verkehrsmitteln oder sind extrem angespannt in der Öffentlichkeit. Heftige körperliche Reaktionen wie Herzrasen, Schweißausbrüche und Atemnot kommen hinzu.
Die gute Nachricht: Wer an einer Angststörung leidet, kann in einer Psychotherapie lernen, damit umzugehen. Psychologe und Sympatient-Mitgründer Julian Angern bestätigt: „60 bis 80 Prozent der Patienten profitieren extrem von einer leitliniengerechten Behandlung.“ Gleichzeitig verweist er auf vier Millionen jährlich, die keine Therapie erhalten, weil die Plätze rar sind. Auch die Krankheit selbst kann den Zugang verwehren. Liegt beispielsweise eine Agoraphobie vor, fällt es meist sehr schwer, unbekannte Orte aufzusuchen.
Therapie auf der heimischen Couch
Mit dem Programm Invirto ist eine Behandlung auch von zu Hause aus möglich. Dazu klären Interessenten zunächst in einer etwa dreistündigen psychologischen Beratung, ob sich Invirto für ihr Krankheitsbild eignet. Ist dies der Fall, kommt das Equipment mit der Post: Es enthält eine VR-Brille, Kopfhörer und den Zugang zur Invirto-App. In acht aufeinander aufbauenden Einheiten klärt sie umfassend über die Störung und ihre Ursachen auf und stellt Strategien vor, um sie zu bewältigen. Für die umfangreichen Konfrontationsübungen wird das Smartphone in die VR-Brille eingelegt. Nun tauchen die Patienten in Situationen ein, die ihnen schwerfallen, das kann zum Beispiel die Fahrt in einer vollen Hamburger U-Bahn sein. Approbierte Therapeutinnen und Therapeuten begleiten den gesamten Therapieverlauf. Dazu finden mehrere Gespräche per Videocall statt.
Der Anbieter Sympatient hat damit alle Inhalte einer klassischen Kurzzeittherapie in ein digitales Format übersetzt – mit einer Ausnahme: Am Ende der vier- bis achtwöchigen Behandlung dürfen die Anwender das Invirto-Set behalten und können so je nach Bedarf die Inhalte wiederholen.
Für Betroffene bietet die VR-Entwicklung damit eine Möglichkeit, schnell zu einem leichteren Alltag zurückzufinden. Denn bei unbehandelten Angststörungen besteht die Gefahr, dass sie chronifizieren und zu immer größeren Einschränkungen führen. Der soziale Rückzug wird stärker, die Lebensqualität sinkt, und die Wahrscheinlichkeit für weitere Erkrankungen wie beispielsweise Depressionen steigt.
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In der App stellt ein kleines Monster die Angst visuell dar – für viele ist das eine große Hilfe, um damit umzugehen. Denn manchmal sitzt dieses Monster buchstäblich mit auf dem Sofa.
Eine höhere Reichweite durch Virtual Reality
Diese Beobachtung hat auch Julian Angern gemacht. Während seines Psychologiestudiums arbeitete er im Universitätsklinikum Schleswig-Holstein (UKSH) auf einer Station für Angst- und Zwangserkrankungen. In seiner Freizeit beschäftigte er sich mit Virtual Reality. Auch für Laien war es mittlerweile möglich, virtuelle Welten zu programmieren und überraschend reale Erlebnisse zu erschaffen. Davon erzählte er einem Oberarzt. Dessen Neugier war geweckt – könnte man damit eine Therapie unterstützen? „Also habe ich meinen Rechner und viele Kabel in die Klinik geschleppt, mehrere Sensoren in einem Raum verteilt und Situationen wie die Fahrt in einem Aufzug simuliert. Das Feedback war durchweg positiv, das Interesse der Klinik an der Technologie groß“, berichtet Julian Angern.
Sein Bruder Christian Angern und Benedikt Reinke befanden sich zu diesem Zeitpunkt in England und in der letzten Phase ihres Managementstudiums. Die beiden Freunde haben sich schon immer fürs Gründen interessiert. Sie erinnern sich gut an die Berichte über die vielversprechende Idee. Doch große, teure Systeme in Praxen zu installieren, erschien ihnen nicht sinnvoll. Eine mobile Lösung könnte auch die bisher unversorgten Menschen erreichen. Zudem war die VR-Technik inzwischen genügend ausgereift, um die speziellen Anforderungen auch im privaten Umfeld erfüllen zu können.
Zulassung als Medizinprodukt
KfW Award Gründen
Der KfW Award Gründen zeichnet in jedem Jahr 16 Landessieger und einen Bundessieger für ihre Geschäftsideen aus.
Mehr erfahrenIm Herbst 2017 erfolgte die Gründung der Sympatient GmbH. Sie wurde von dem Programm InnoRampUp der Hamburger Förderbank unterstützt und mit Venturecapital sowie von Business Angels finanziert. Dank der soliden Grundlage von über zwei Millionen Euro konnte sich das Gründertrio zwei Jahre lang intensiv mit den Therapien von Agoraphobie, Panikstörungen und sozialen Phobien befassen und ihre VR-Anwendung auf diese Krankheitsbilder zuschneiden.
Das Universitätsklinikum Schleswig-Holstein (UKSH) als Partner der ersten Stunde führte die wissenschaftlichen Studien für das Produkt durch. Dies war die Voraussetzung für die Zertifizierung von Sympatient als Medizinprodukthersteller. Ein aufwendiges Verfahren ist damit verbunden. „Das ist kein Sprint, sondern ein harter, langer Marathon“, sagt Christian Angern.
App auf Rezept
Inzwischen beschäftigt Sympatient 20 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter und hat für das Produkt die Zulassung als Digitale Gesundheitsanwendung (DiGa) erhalten. Ärzte und Psychotherapeuten können Invirto verordnen und alle gesetzlichen Krankenkassen erstatten die Kosten. Damit ist die Anwendung für die Patienten kostenfrei.
Den Kassen bietet die digitale Variante viele Vorteile: Die Versorgung ihrer Mitglieder ist auch bei knappen Therapieplätzen gewährleistet, und es besteht weniger Gefahr, dass die Störung chronifiziert. Denn das zieht oft weitere Erkrankungen nach sich, die wiederum Kosten verursachen. Die Aufgeschlossenheit der Krankenkassen gegenüber digitalen Lösungen ist zu Corona-Zeiten weiter gestiegen. Auch Therapieanbieter haben auf digitale Beratungen umgestellt, damit sie ihre Patientinnen und Patienten weiter betreuen können. Für Sympatient ist dies eine gute Voraussetzung, um weiter bekannt zu werden. Auch die Berichterstattung im Rahmen der Auszeichnung mit dem KfW Award Gründen hat dazu beigetragen.
Für die Zukunft plant das Unternehmen eine Erweiterung der Technologie um ein Biofeedbackverfahren, damit die Erfolge der Therapie noch stärker sichtbar werden. Die Aufwände sind hoch und die Genehmigungsverfahren langwierig. Doch die Aussicht, den vielen Angstpatienten, die bisher keine Therapie erhalten, helfen zu können, ist eine ideale Motivation für die Gründer und ihre engagierten Mitarbeiter. Christian Angern fasst zusammen: „Wir könnten in einem anderen Job sicherlich weniger Stunden arbeiten, aber mit diesem Team an solchen wichtigen Versorgungsproblemen zu arbeiten, das macht uns einfach richtig Spaß!“
Auf KfW Stories veröffentlicht am 16. Februar 2021, aktualisiert am 6. Juli 2023.
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